Wenn Gefühle Achterbahn fahren: Ein ehrlicher Blick auf emotionale Regulation und wie ich gelernt habe, meine Emotionen zu regulieren
Manchmal reicht ein umgekipptes Glas Wasser oder ein falsch gesetzter Ton – und zack, da sind sie: die großen Gefühle. Und nein, ich rede nicht (nur) von unseren Kindern. Auch wir Erwachsenen kämpfen manchmal mit inneren Gewittern, die schneller losbrechen, als uns lieb ist. Besonders dann, wenn wir neurodivers unterwegs sind oder gelernt haben, Emotionen lieber zu verstecken als zu verstehen.
Darum freue ich mich riesig, heute einen ganz besonderen Gastbeitrag mit dir zu teilen – geschrieben von Lina von alltagsnavi.de. Lina nimmt uns mit auf eine Reise durch das emotionale Dickicht ihres Alltags. Sie zeigt, wie es ist, wenn man jahrelang glaubt, „zu viel“ zu sein – und wie sie gelernt hat, ihre Gefühle nicht länger zu bekämpfen, sondern zu begleiten.
Spoiler: Es wird ehrlich, berührend, lebensnah – und du wirst dich vielleicht öfter wiedererkennen, als dir lieb ist. 😉
🎯 Lies weiter und nimm dir mit, was dir gut tut – für dich, für deinen Alltag und für deine ganz eigene Art, durch dieses manchmal chaotische Leben zu navigieren.

Gastbeitrag von Lina
Ich bin Lina, Projektmanagerin, Scanner-Persönlichkeit, mit ADHS und einer Schwäche für To-do-Listen, die Mut machen. Auf alltagsnavi.de helfe ich anderen neurodivergenten Erwachsenen dabei, sich im Chaos des Alltags besser zurechtzufinden. Mit Tipps, Humor und einer ordentlichen Portion Selbstmitgefühl. alltagsnavi ist dein Begleiter für mehr Orientierung, Struktur und Leichtigkeit. Ganz besonders dann, wenn du denkst: „Ich schaffe das nie.“ Alltagsnavi.de
Von außen betrachtet sah es vielleicht nach einem Wutanfall aus. Oder nach Drama. Für mich war es oft ein Überlebenskampf.
Lange wusste ich nicht, warum meine Emotionen so stark sind und noch länger wusste ich nicht, wie ich damit umgehen kann, ohne mir selbst (oder anderen) zu schaden. Heute weiß ich: Das hat nichts mit einer „schlechten Persönlichkeit“ zu tun, sondern sehr viel mit ADHS, Reizverarbeitung und jahrelang erlernten (kontraproduktive) Strategien.
Und ich weiß auch: Emotionale Regulation ist keine Kindersache. Sie ist eine Lebenssache. Und sie darf, ja muss, geübt werden, auch wenn wir schon längst offiziell „erwachsen“ sind.
„Zu viel“ für alle, vor allem für mich selbst
Als Kind war ich gefühlt immer zu viel. Zu laut, zu wütend, zu schnell verletzt. Ich habe schon als Grundschulkind erlebt, wie meine Emotionen andere überfordert haben. Heute weiß ich: Das ist kein Charakterfehler. Ich bin neurodivergent. Und das bedeutet unter anderem, dass mein Gehirn Reize anders verarbeitet und Emotionen nicht einfach auf Autopilot regulieren kann.
Gerade Wut, Traurigkeit und Scham waren für mich über viele Jahre wie Wellen, die ohne Vorwarnung über mich hereinbrachen. Besonders Wut: Mit mir Auto zu fahren, ist nicht immer ein Wellnesserlebnis. Ich bin schnell auf 180. Sobald jemand mir die Vorfahrt nimmt oder die Blinkerregel als freundliche Empfehlung versteht, rege ich mich auf. Wütend. Laut. „Wüste Beschimpfungen“ wäre die wohlwollende Zusammenfassung. Aber genauso schnell, wie die Wut kommt, geht sie auch wieder. Wie ein ADHS-Gewitter: kurz, heftig, vorbei. Früher habe ich mich danach oft geschämt. Heute weiß ich: Diese Impulsivität ist kein Charakterfehler. Sie ist ein Symptom. Und: Ich kann lernen, damit umzugehen.

Kleine Einführung: Was heißt eigentlich „emotionale Regulation“? Und wie schaffe ich es meine Emotionen zu regulieren?
Emotionale Regulation ist die Fähigkeit, eigene Gefühle zu erkennen, zu beeinflussen und angemessen mit ihnen umzugehen. In der Entwicklungspsychologie spricht man von einem Prozess, der bereits in der frühen Kindheit beginnt, über sogenannte Co-Regulation durch Bezugspersonen. Aber: Auch Erwachsene sind auf Co-Regulation angewiesen, besonders wenn sie selbst nicht ausreichend Selbstregulationsstrategien entwickeln konnten, etwa durch ADHS, Traumata oder chronischen Stress.
Menschen mit ADHS fällt die Regulation besonders schwer, da sie oft:
- Reize intensiver wahrnehmen
- Impulse schlechter kontrollieren können
- Schwierigkeiten haben, zwischen Gefühl und Handlung zu unterscheiden
Das Ergebnis: Gefühle sind schneller, stärker, länger anhaltend. Und oft überfordern sie einen selbst genauso sehr wie andere.
Ein kurzer Blick in die Entwicklungspsychologie
Schon im Kleinkindalter beginnen wir, erste Formen der Selbstregulation zu entwickeln. Das passiert vor allem über Beziehung und Spiegelung: Wenn Eltern auf das weinende Baby eingehen, mitfühlen, beruhigen, dann lernt das Kind: Ich bin sicher. Ich kann wieder runterkommen. Ich bin mit meinen Gefühlen nicht allein.
Aber nicht alle Kinder machen diese Erfahrung. Und nicht alle Erwachsenen können später nachholen, was in der frühen Kindheit gefehlt hat. Gerade bei Menschen mit ADHS ist die zeitliche Entwicklung der Emotionsregulation oft verzögert, laut Forschung teilweise um bis zu 30 Prozent. Ein ADHS-Betroffener mit 30 kann in bestimmten emotionalen Reaktionen auf dem Niveau eines 20-Jährigen sein. Nicht, weil er unreif ist. Sondern, weil das Gehirn andere Wege nimmt.
Reizüberflutung ist oft die wahre Ursache
Es war für mich ein Aha-Moment, als ich verstand: Viele meiner emotionalen Ausbrüche hatten gar nicht direkt mit der Situation zu tun, sondern damit, dass mein System schon vorher völlig überreizt war.
Zu viele Geräusche, zu viele Menschen, zu viele Aufgaben gleichzeitig und dann reicht ein einziger Auslöser, im schlimmsten Fall mit Erwartungen an mich verbunden („Warum hast du nicht zurückgeschrieben?“), und die Emotionen explodieren.
Mein Tipp: Beobachte dich einen Tag lang und frage dich bei jeder starken Emotion:
Bin ich gerade wirklich sauer oder einfach nur müde, hungrig, überreizt?
Schon diese Unterscheidung kann helfen, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln.
Dissoziation: Wenn Gefühle zu viel werden
Neben den Ausbrüchen gab es bei mir auch das Gegenteil: Ich habe gelernt, Emotionen herunterzuschlucken. Als Kind war ich „zu empfindlich“. Ich habe viel geweint, war leicht verletzt. Die Botschaft war klar: „Reiß dich zusammen.“ Also habe ich meine Emotionen weggedrückt. Geschluckt. Ignoriert.
Aus dieser Bewältigungsstrategie kann etwas entstehen, das man Dissoziation nennt, ein Zustand, in dem sich das eigene Erleben wie „neben dem Körper“ anfühlt. Gedanken sind neblig, Gefühle taub, man ist zwar physisch da, aber irgendwie nicht ganz.
Tools, die ich dagegen in der Therapie gelernt habe, sind:
- Kalte Temperatur (z. B. ein Eiswürfel in der Hand)
- Einen Geruchssinn aktivieren (z. B. Pfefferminzöl, Parfum)
- Gewicht spüren (z. B. durch eine Gewichtsdecke)
- Rhythmisches Klopfen oder Gehen
- Eine Rechenaufgabe im Kopf (z.B. rückwärts zählen in Dreierschritten)
Diese Methoden stammen aus der Verhaltenstherapie und helfen, das Nervensystem wieder ins Hier und Jetzt zu holen.

Was mir wirklich hilft
Der wichtigste Schritt für mich war, nicht aus starken Emotionen heraus zu handeln. Heute sage ich in Konfliktsituationen bewusst:
„Ich brauch einen Moment Abstand. Ich will nichts sagen, was ich später bereue.“
Außerdem hilft mir:
- Sport oder Bewegung: Die schnellste Methode, um Adrenalin abzubauen.
- Alles aufschreiben: Gefühle aus dem Kopf raus, rein ins Notizbuch oder in die Sprachmemo.
- Co-Regulation: Eine vertraute Person anrufen, bei der ich mich zeigen kann, ohne bewertet zu werden.
- Achtsame Planung: Ich plane mittlerweile bewusst Pausen und Rückzugsräume ein, besonders an Tagen, wo viel los ist.
- Bewusstes Atmen: Vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen. Klingt banal. Ist aber ein echter Gamechanger.
Co-Regulation, nicht nur was für Kinder
Oft wird über Co-Regulation im Zusammenhang mit Kindern gesprochen: Eltern, die ihrem Kind helfen, Gefühle zu verarbeiten. Aber: auch Erwachsene brauchen das. Besonders neurodivergente Erwachsene. Und vor allem dann, wenn sie als Kind keine stabile emotionale Begleitung erfahren haben.
Ein Blick, ein ruhiger Ton, eine verständnisvolle Reaktion, das kann Wunder wirken. Ich habe zum Glück heute Menschen um mich, die nicht alles sofort persönlich nehmen, wenn ich kurzzeitig explodiere. Oder die einfach da sind, wenn ich mich zurückziehe. Man muss das nicht allein schaffen.
Selbstmitgefühl statt Selbstvorwürfe
Früher dachte ich bei jedem emotionalen Ausbruch:
„Was stimmt nicht mit dir?“
„Warum kriegst du das nicht in den Griff?“
„Andere schaffen das doch auch.“
Heute weiß ich: Das ist keine Willensschwäche. Das ist ein Symptom. Und: ich bin nicht allein damit.
Was mir hilft, ist ein innerer Perspektivwechsel:
- Von Schuld → zu Verständnis
- Von Versagen → zu Selbstmitgefühl
- Von Ohnmacht → zu Handlungsfähigkeit
Fazit: Emotionsregulation ist lernbar, auch für dich
Egal ob du neurodivergent bist, einfach schnell reizüberflutet oder lange unterdrückte Emotionen mit dir herumschleppst: du bist nicht falsch. Und du bist nicht allein. Du darfst lernen, dich zu beruhigen. Du darfst lernen, dich zu fühlen. Und du darfst lernen, dich dabei zu mögen.
Und falls es heute nicht klappt: dann probier’s morgen nochmal. Schritt für Schritt.